Martin Walser – Ein fliehendes Pferd

»Einem fliehenden Pferd kannst du dich nicht in den Weg stellen. Es muß das Gefühl haben, sein Weg bleibt frei. Und: ein fliehendes Pferd läßt nicht mit sich reden.«

Martin Walsers 1978 erstmals erschienene Novelle Ein fliehendes Pferd stellte einen Zäsur in der Karriere des damals zwar bekannten, aber immer noch von außerliterarischen Arbeiten abhängigen Schriftstellers dar (Magenau 2005). Der 150-Seiter verhalf Walser mit einem Bestseller-Erfolg  zur finanziellen Unabhängigkeit und brachte ihm großes Lob bei sämtlichen Feuilletonisten ein, allen voran Marcel Reich-Ranicki höchstpersönlich.

Helmut und Sabine Halm verbringen ihren Urlaub gemeinsam mit Hund Otto wie jedes Jahr seit 11 Jahren in der immer gleichen Ferienwohnung am Bodensee. Ihre Beziehung ist schon vor Jahren schier unwiederbelebbar eingeschlafen und die einzige Freude, die sie noch miteinander teilen, ist die allabendliche Flasche Wein. Bei einem abendlichen Stadtbummel treffen sie zufällig die Buchs. Klaus Buch ist ein alter Schulkamerad von Helmut, der mit seiner 18 Jahre jüngeren Frau nur unweit von den Halms ebenfalls seinen Urlaub genießt. Klaus ist das Gegenteil von Helmut – jung geblieben, abenteuerlustig, draufgängerisch – und Helmut entgeht nicht, dass Sabine wohl auch lieber einen wie Klaus daheim hätte. Die Männer stehen sich hier jedoch nur scheinbar als Antagonisten gegenüber, denn eigentlich sitzen sie im selben – hier nicht nur sprichwörtlichen – Boot.

Der Leser nimmt Helmuts Perspektive ein. Helmut ist ein verklemmter Garstling, der niemandem etwas wahrhaft gönnen kann und sich von allem und jedem permanent angegriffen fühlt. Eine der höchsten Freuden in seinem Leben ist es, die Leute über die Natur seiner Persönlichkeit zu täuschen, sie an der Nase herumzuführen. Er ist zutiefst unsicher und glaubt sein wahres ich vor der Welt beschützen zu müssen. Wirklich sicher fühlt er sich nur in Isolation, in seinem Heim vermisst er Gitterstäbe vor den Fenstern. Im Gegensatz zum unternehmungslustigen Klaus hatte Helmut »praktisch nicht gelebt«, was ihm einerseits als Tragödie erscheint, jedoch andererseits über Klaus’ seiner Meinung nach lächerlichen Lebensstil erhebt.

Klaus ist immer guter Dinge, ihm scheint alles leicht von der Hand zu gehen und auch wenn Helmut es im Traum nicht zugeben würde, hätte er auf der Stelle mit ihm tauschen wollen.  Es ist die selbe alte Geschichte: Helmut kompensiert seinen Neid auf Klaus durch Hohn und Spott, er begegnet ihm und seiner Lebensweise, die er doch insgeheim bewundert, mit Verachtung. Aber auch Klaus ist nicht der Held, der er vorgibt zu sein. Auch er ist unsicher und geplagt von Selbstzweifeln. Er ist rastlos auf der Suche nach neuen Reizen, Abenteuer und dabei ständig auf der Flucht vor sich selbst, der »alte[n] Küchenschabe, nichts gewesen, nichts geworden«. Dies offenbart Klaus seinem alten Freund auf einer gemeinsamen Segeltour, dem Wendepunkt der Geschichte. Flucht ist das essentielle Thema in Walsers Novelle. Beide Männer sind auf der Flucht vor dem Leistungsdruck der Gesellschaft und vor sich selbst. Dabei entwickelte jeder von ihnen seine jeweils eigene Strategie: während sich Helmut ins Private zurückzieht, entflieht Klaus seinen Problemen in die Welt hinaus.

Walser verzichtet auf gängige Kenntlichmachungen von wörtlicher Rede wie Anführungszeichen oder Einzüge, was Dialog und Prosa miteinander verschmelzen lässt und eine aufregende Mitteilbarkeit schafft, die die personale Erzählperspektive hervorragend unterstützt. Walser zeigt in Ein fliehendes Pferd außerdem eine Begabung, die nur wenige Autoren haben: er schafft es für einem jeden bekannten aber dennoch immer nur latent in unser Bewusstsein tretenden Gefühlsregungen immer die richtigen Worte zu finden und sie greifbar, manifest zu machen.

Ihm gelingt hier eine außerordentlich faszinierende Analyse menschlicher Abgründe. Er verleiht seinem Protagonisten eine unsympathisch schmerzhafte Authentizität, die trotz seiner verachtungswürdigen Persönlichkeit dem Leser ertappend den Spiegel vorhält. Sowohl Helmut, als auch Klaus sind ein Symptom unserer Gesellschaft, jeder auf seine eigene Weise damit beschäftigt einen Schein aufrecht zu erhalten, während sie von innen heraus verderben wie ein von Kernhausfäule befallener Apfel. Der Schimmelpilz befiel sie in ihrer Blütezeit, zerfraß das Kerngehäuse ihrer jungen Frucht und greift nun im mittleren Alter auf das Fleisch über. Sie beide sind fliehende Pferde und fliehende Pferde lassen nicht mit sich reden.

Walsers Gesellschaftskritik an der oberflächlichen Fixierung auf anderer Leute Erfolge, an denen die eigenen gemessen werden, ist dabei so aktuell wie nie. Auf Instagram filtern wir uns das Leben schön und beneiden Influencer um die Abertausenden Jünger, die ihnen ins Heilige Land der materiellen Glückseligkeit folgen. Doch sie alle sind blind. Sie sehen das Ziel nicht, denn das Ziel gibt es nicht. Es ist eine Falle, aus der es nicht jeder vermag sich zu befreien.


Quellen
Magenau, Jörg 2005: Martin Walser. Eine Biographie. Rowohlt Verlag.

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