Martin Suter – Die dunkle Seite des Mondes

Die Rückseite des Mondes ist seit langer Zeit immer wieder Gegenstand konspirativer Spekulationen. Ufo-Basen, Aliens, ja die Nazis höchstpersönlich sollen sich mit Reichsflugscheiben auf der von uns Erdlingen nicht einsehbaren Seite des Trabanten tummeln. Zuweilen wird diese ominöse Rückseite auch die dunkleSeite des Mondes genannt und ist eine beliebte Metapher für die menschliche Seele. So soll Mark Twain einst gesagt haben:

»Every one is a moon, and has a dark side which he never shows to anybody.«

In ihrem Jahrhundertalbum The Dark Side of the Moongreifen Pink Floyd 1973 dieses Konzept musikalisch ebenfalls auf. Ein Hauptthema des Albums ist der über uns allen wie ein Damoklesschwert pendelnde Wahnsinn, maßgeblich inspiriert durch das Schicksal des Gründungsmitglieds Syd Barrett, der wegen psychischer Instabilität und zunehmendem Missbrauch halluzinogener Drogen 1968 die Band verließ. Er zog sich aus der Öffentlichkeit zurück, entfremdete sich zunehmend von der Realität und der Gesellschaft.

Martin Suter begibt sich also mit dem Titel seines 2000 erstmals erschienenen Romans auf bereits dicht bewachsenes Terrain. Suter erzählt die Geschichte von Urs Blank, einem erfolgreichen Züricher Wirtschaftsanwalt mit dem Spezialgebiet Firmenfusionen, der nach einem Trip auf halluzinogenen Pilzen eine dramatische Persönlichkeitsveränderung erleidet und sich schließlich, ähnlich wie Syd Barrett, von der Zivilisation zurückzieht und im Wald lebt.

Alles fängt wie so oft ganz harmlos an. Urs Blank ist 45 Jahre alt, hat bereits eine Ehe und scheinbar auch seine Midlifecrisis hinter sich. Er lebt mit seiner 7 Jahre jüngeren, beruflich als Besitzerin eines Design-Geschäfts erfolgreichen Freundin Evelyne zusammen und hat im Grunde alles, was sich ein Mann wünschen kann. Nach einer anstrengenden Verhandlung bis spät in die Nacht macht Urs Blank das erste Mal seit Jahren einen Waldspaziergang. Dieser erweckt in ihm das Gefühl, dass in seinem Leben etwas fehlt.

Urs Blank ist ein verschlossener und beherrschter Mensch. Seine tatsächlichen Gefühlsregungen vor allem negativer Art spielen sich lediglich in seinem Inneren ab und dringen nie nach außen. Blank ein wütender Mensch, was allerdings niemandem je auffallen könnte, da er seinen Zorn stets herunterschluckt.

Auf einem Markt lernt Blank Lucille kennen, eine 26-jährige, tierliebe Räucherstäbchenverkäuferin mit ausgeprägt spiritueller Seite und einer Vorliebe für halluzinogene Pilze. Blank fängt ein Verhältnis mit ihr an und lässt sich zu einem gemeinsamen Drogentrip mit einer Gruppe anderer Leute im Wald überreden. Auf dem Weg zum Treffpunkt hören sie Pink Floyds Dark Side of the Moon in Blanks Cabrio. Das Ganze ist, wie der Leser bereits vermutet, der Anfang vom Ende des Urs Blank. Nach dem farbenfrohen Trip in die hinterletzten Ecken seines Bewusstseins ist Blank wie ausgewechselt. Er verliert die zuvor so akribisch gepflegte Hemmschwelle für die Expression seiner Aggressionen und wird zu einer Gefahr für sich und andere. Wieder vom Trip heruntergekommen verwandelt sich der bislang nach außen hin ausgeglichene, Blank in einen rücksichtslosen Egomanen, dessen Gefühlsspektrum von gleichgültig bis impulsiv-jähzornig reicht. Mit seinem besten Freund, einem Psychiater, versucht er die Folgen des Trips durch weitere Trips rückgängig zu machen, was ihnen jedoch nicht gelingt – Blank entfremdet sich zunehmend von der Zivilisation und allem, was ihm lieb und teuer war. Er zieht sich in den Wald zurück, zu dem er eine stärkere Verbindung spürt als je zuvor.

Die Geschichte wird abwechselnd aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Dabei handelt es sich nicht nur um Blank und Menschen aus seinem privaten Umfeld. Suter bringt außerdem die Perspektiven von Geschäftspartnern und Klienten, einem Kommissar, einem Pilzexperten und anderen völlig Fremden ein und eröffnet damit diverse Nebenschauplätze und Handlungsstränge, die mit dem zunächst angedeuteten tiefenpsychologischen Kern des Werkes nichts mehr zu tun haben. Die Fusionsgeschäfte von Blanks Kanzlei (in der er ohnehin kaum noch auftaucht) laufen anders als erwartet; Pius Ott, ein an einer Fusion beteiligter Klient der Kanzlei, versucht Blank im Wald ausfindig zu machen, um mit ihm eine Rechnung zu begleichen; Blanks Kollegen betreiben Insiderhandel an der Börse; ein Kommissar kommt Blanks Verbrechen auf die Spur, die er im Zuge seiner drogenbedingten Hemmungslosigkeit begangen hat und so weiter und so fort… Faden verloren? Ich auch.

Suter stopft die knapp 300 Seiten voll mit Anleihen an Krimimalroman, Psychothriller, psychologischem Roman, Wirtschaftskrimi und Politthriller. Und so kommt es, dass es nach dem ersten Drogentrip nicht nur für Urs Blank, sondern auch für den Leser rapide bergab geht. Die zunächst interessante Geschichte von den Auswirkungen halluzinogener Drogen auf die menschliche Psyche zerfasert sich durch die sukzessive Dominanz nutzloser Erzählstränge und wird so immer beliebiger. Statt einen fokussierten Roman über die dunkle Seite in uns allen zu kreieren, der sich mit der niedrigen Schwelle zwischen Normalität und Wahnsinn beschäftigt, verfasstSuter nur ein uninspiriertes Durcheinander.

Die Faszination der Abgründe der menschlichen Psyche, die Pink Floyd damals so erfolgreich musikalisch einfingen, spiegelt sich nicht in Suters Roman wider. Die dunkle Seite des Mondes verschenkt das dem referenzierten Thema innewohnende Potenzial kläglich. Das ist schade, denn Suters interessantes Setup rund um die Themen Wald und Bewusstseinserweiterung bietet viele Möglichkeiten, die der Autor nicht nutzt. Mit der Referenz des Jahrhundertalbums schaffte Suter eine Fallhöhe, die ihm zum Verhängnis wird. Der Roman kann seinem musikalischen Namensvetter nicht das Wasser reichen. Der Titel ist eine hohle Fassade.

»There is no dark side in the moon, really; [as a] matter of fact it’s all dark.«(Gerry Driscoll in Eclipse, Dark Side of the Moon)

 

 

1 comment / Add your comment below

Schreibe einen Kommentar