T. C. Boyles neuster Roman Die Terranauten erschien erstmals auf Deutsch 2017 im Hanser-Verlag. Es geht um ein sowohl soziales als auch biologisches Experiment, bei dem 8 Wissenschaftler (4 Männer und 4 Frauen) für zwei Jahre in ein geschlossenes Ökosystem (genannt E2) gesperrt werden und darin vollkommen autark überleben sollen. Dieses Experiment wird finanziert und organisiert von Mission Control, einem Unternehmen, das jeden biologischen und sozialen Aspekt dieser Mission kontrolliert.
Ziel des Experiments ist das Öffnen der Luftschleuse zu verhindern – nichts hinein und nichts hinaus zu lassen – um die Machbarkeit einer solchen Lebensweise in einer lebensfeindlichen Umgebung wie dem Mars zu simulieren. Daher nennen sich die Wissenschaftler auch Terranauten.
Die Basis von Boyles Roman ist ein reales Experiment in den 90ern mit dem Namen Biosphere 2. Damals musste allerdings die Luftschleuse häufig aufgrund unterschiedlicher Komplikationen geöffnet werden und die Mission galt daher allgemein als gescheitert. Boyle setzt an dieser Stelle mit einem fiktiven Zweitversuch an, bei dem alles besser laufen soll als beim ersten Mal.
Erzählt wird die Geschichte in Form eines rückblickenden Berichts aus drei Perspektiven: Dawn, eine Terranautin in E2; Ramsay, ebenfalls Terranaut in E2 und Dawns Liebhaber; Linda, Mitarbeiterin von Mission Control und Dawns beste Freundin. Leider verhinderte diese Erzählweise, dass wir einen tieferen Einblick in die Sichtweise der anderen 6 Terranauten bekommen. Das ist vor allem deshalb besonders schade, weil sich das Format eines 2-jährigen Einschlusses ideal für eine Charakterstudie geeignet hätte, so aber einige Charaktere dem Leser weitgehend unbekannt bleiben und die interessante Gruppendynamik nur durch eine extrem subjektive Brille betrachtet werden kann.
Die Charaktere sind insgesamt eine der großen Schwächen des Romans. Die drei Hauptfiguren Linda, Dawn und Ramsay, die wir durch ihre Erzählerfunktion am besten kennen lernen, sind so unfassbar eindimensional und stereotyp, dass sie es nicht geschafft haben in mir auch nur ein Fünkchen Interesse für irgendetwas zu erwecken. Dawn ist die typische Naturschönheit, deren Welt sich nur um sie selbst dreht und die immer bekommt, was sie will. Ramsay, der verantwortungslose Macho, der aus irgendeinem unerfindlichen Grund so sehr von Dawn und ihrem Aussehen – vor allem von ihrem Aussehen – fasziniert ist, dass er nicht mehr aufhören kann dem Leser deswegen die Ohren vollzusülzen. Dann ist da noch Linda, die eifersüchtige Freundin mit Minderwertigkeitskomplex, die glaubt sie habe den Platz als Terranautin in E2 eher verdient als Dawn, oder jeder andere Mensch auf der Welt.
Die 6 anderen Terranauen von E2 sind von Boyles Fantasielosigkeit nicht verschont geblieben. Gretchen, die verrückte Alte; Stevie, die oberflächliche Wasserstoffblondine; Richard, der vernünftige und professionelle Arzt der Mission; Düsentrieb, den Nerd und Körperklaus, dessen richtigen Namen man direkt wieder vergisst. Diane und Troy treten als Personen so wenig in Erscheinung, dass es fast schwierig ist sie überhaupt als partizipierende Charaktere wahrzunehmen.
Der Plot ist dünn. Über 600 Seiten erstreckt sich viel unnötiges Geschwurbel über Essen und andere unwichtige Kleinigkeiten, die Handlung schreitet langsam voran und erst gegen Ende kommt ein bisschen Tempo in die Angelegenheit. Im Prinzip aber kann man sagen, dass der Plot maßgeblich aus dem Verfall der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Radikalisierung einiger Terranauten besteht, was durch Komplikationen technischer und sozialer Natur verschärft wird. Das Essen und Sauerstoff werden knapp, verschiedene Techtelmechtel vergiften das Klima. Dass die Terranautin Dawn schließlich im zweiten Jahr von ihrem Kollegen Ramsay schwanger wird und sich dafür entscheidet das Kind trotz mangelnder Nahrung und Luft in E2 zu bekommen und großzuziehen lässt die Atmosphäre endgültig umschlagen und bringt die Terranauten schließlich vollends gegeneinander auf.
Bei Mission Control sieht es nicht anders aus. Die einzigen nennenswerten Charaktere neben Linda sind Jeremiah a.k.a. Gottvater und Judy a.k.a. Judas, Liebespaar und Vorstandsmitglieder. Jeremiah erinnert an eine Art Steve Jobs Figur: ein Visionär, der sein Leben der Innovation widmet. Judy ist, wie vermutlich ihr Spitzname erkennen lässt, eine missgünstige und intrigante Person.
Leider macht Boyle so aus dem soziologischen Experiment ein RTL-reifes Eifersuchtsdrama zwischen den drei Erzählern. Bis zu Dawns Schwangerschaft (also 2/3 des Buches) geht es nur um Affären und Sex, sowohl innerhalb als auch außerhalb von E2, als wäre das alles, was Menschen tun. Das “aufregendste”, was uns Boyle an psychologischen Abgründen der menschlichen Natur in Stresssituationen präsentiert, ist das Klauen von Lebensmitteln, das Onanieren in der Natur und das Abgeben fieser Kommentare.
Ein großartiger Aspekt des Romans, der all das fantastisch hätte retten können, wäre die sektenartige bzw. quasi-religiöse Natur von Mission Control – wäre sie subtil und raffiniert eingeflochten worden. Das Unternehmen kontrolliert das Verhalten seiner Mitarbeiter so stark, dass selbst die Autonomie über den eigenen Körper keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Man bringt sie im Namen der Mission dazu Dinge zu tun, die sie freiwillig nicht tun würden und verlangt vollkommene Aufopferung des Individuums für eine größere Sache. Perfekt dazu passte die Radikalisierung der Terranautin Dawn im Laufe der zwei Jahre, für die die Mission sukzessive zu einem Teil einer großen Ideologie wird und nicht mehr nur ein Experiment ist. Dieses verblendete Verhalten wird von der Spitze des Unternehmens unterstützt und sogar belohnt. Hinzu kommt der Glaube an ein Weltuntergangszenario, für das nur Mission Control die Rettung in Form von E2 bereithält.
Aber leider bleibt der Roman auch in dieser Hinsicht enttäuschend. Alleine die Spitznamen der Vorstandesmitglieder von Mission Control schreien einfach zu laut “SCHAUT MICH AN, ICH BIN EINE RELIGIONS/SEKTEN-REFERENZ”. Gottvater, seine Freundin Judas und das dritte, eher passive Vorstandsmitglied Jesulein. Subtil. Zusätzlich wird ständig von den Erzählern beiläufig, fast sogar scherzhaft erwähnt, dass Mission Control ein sektenartiger Verein sei mit Gottvater als dem Schöpfer. Dass E2 im Prinzip ein großer Garten Eden ist, in dem ein Kind Namens Eve zur Welt kommt, ist in dem Zusammenhang einfach nur plump. Das Ganze wirkt ungelenk und hätte weitaus raffinierter ausgearbeitet werden können.
Für mich hat der Roman literarisch auf den meisten Ebenen leider versagt. Schlechte Charakter-Entwicklung, langweiliger Plot, unkreative Ausarbeitung der Grundprämisse und Fehlen eines tieferen Sinns. Der einzige Grund, weshalb es keine Vollkatastrophe war, ist Boyles Fähigkeit zu schreiben. Zwar ist er kein Nabokov, aber sein Stil ist solide. Außerdem die Geschichte zumindest gegen Ende nicht vollkommen zum Wegschnarchen.
Die Terranauten | T. C. Boyle | Hanser | 604 Seiten
ISBN: 9783446253865 | 26,00€
Schade, dass dich das Buch nicht überzeugen konnte. Ich habe es bisher nicht gelesen.
Neri, Leselaunen
Dein Review erinnert mich fatal an meinen Eindruck bei der Lektüre von “The Martian” von Andy Weir. Ein wissenschaftlich genauer Plott, aber die eindimensionalsten (gibt es davon überhaupt einen Superlativ?) Romanfiguren, die mir bislang untergekommen ist.
Hallo Peter! “The Martian” habe ich bislang leider nicht gelesen, habe aber von vielen Seiten gehört, dass es besser sein soll als Boyles “Die Terranauten”. Das zu beurteilen steht mir an dieser Stelle nicht zu. Du hast allerdings mein Interesse geweckt und “The Martian” kommt direkt auf meine Liste!