Harper Lee – Wer die Nachtigall Stört…

[…] ich glaube, es gibt nur eine Art von Menschen. Einfach Menschen.

[…] wer ein Gewehr bei sich hat, der fordert die Leute heraus, auf ihn zu schießen.

Die achtjährige Scout erzählt die Geschichte ihrer Kindheit, vor allem aber die Geschichte ihres Vaters, wie er in den 1930ern entgegen aller sozialer Normen die juristische Verteidigung des schwarzen Tom Robinson aufnimmt, der fälschlich beschuldigt wird eine weiße Frau vergewaltigt zu haben. Es geht um Rassismus in den Südstaaten der USA, aber auch um das Aufwachsen als junges Mädchen in einem solchen Umfeld.

Zunächst Folgen wir Scout durch ein paar Jahre ihrer Kindheit und erfahren mehr über das Dorf Maycomb, in dem sie mit ihrer Familie lebt. Diese Familie besteht aus dem Vater Atticus, der Anwalt ist, und ihrem 4 Jahre älteren Bruder Jem. Später dann entfaltet sich der Aspekt des Rassismus immer mehr und gipfelt letztlich im Prozess gegen den schwarzen Tom Robinson.

Spoilerfreie Rezension

Dieses Erstlingswerk aus den 1960ern wird in den USA als das Buch über die Beziehung zwischen schwarz und weiß gesehen, es steht in vielen High Schools auf dem Lehrplan und gilt mittlerweile als Klassiker.

Zum einen muss ich sagen, dass es eine wirklich tolle Leseerfahrung war. Lee schreibt sehr lebendig und zaubert einem enorm atmosphärische Bilder ins Kopfkino, für jeden Nostalgiker ein wahres Fest. Jedoch muss ich sagen, dass ich vom literarischen Gesamtbild nicht annähernd so beeindruckt war, wie ich gehofft oder erwartet hatte, und ein paar kleine Probleme mit dem Buch hatte (die jedoch unter anderem auch seiner Rezeption geschuldet sind).

Zum einen halte ich es für falsch die Bedeutung von Wer die Nachtigall stört… für das Thema Rassismus zu stark zu überhöhen. Wir dürfen nicht vergessen, dass dieses Buch von einer weißen Frau geschrieben ist und alle Protagonisten weiß sind. Tom Robinson tritt als eigenständiger Charakter nur ein einziges mal auf, alle anderen schwarzen Personen sind nur Nebendarsteller. Wir bekommen keinerlei Einblick in die schwarze Welt der Südstaaten, erfahren nichts über ihre Bedürfnisse und Nöte aus erster Hand. Das ist vollkommen okay, sollte jedoch beachtet werden, wenn wir über die Bedeutung des Buches sprechen.

Ein weiteres Manko war für mich die Erzählerin. Die achtjährige Scout erzählt hier in der Ich-Perspektive, meiner Meinung nach merkt man das allerdings quasi nie. Die Erzählweise lässt kaum kindliches Denken durchblicken. Zum Beispiel empfand ich die Wiedergabe des mehrstündigen Vergewaltigungs-Prozesses durch die Achtjährige als sehr unauthentisch, kein Kind in dem Alter würde das alles verstehen, die Geduld haben das Ganze bis zum Ende anzuschauen und dann auch noch so detailreich wiederzugeben. Das Buch gilt als autobiografisch angehaucht, daher denke ich, dass Lee einfach kindliche Erinnerungen mit der Sichtweise ihres Erwachsenen Ichs vermischt und nach Gutdünken zu Papier gebracht hat. Das jedoch ergab meiner Meinung nach keine realistische Erzählung durch eine Achtjährige.

Ebenfalls schade fand ich, dass der Fall des Tom Robinson nur so einen kleinen Anteil an der Geschichte hatte. Die Kapitel des Prozesses waren meiner Meinung nach am stärksten bezüglich Plot und Dynamik, ich habe sie förmlich verschlungen, und hätte mir mehr ein bisschen mehr in die Richtung gewünscht.

Normalerweise kann ich mit wenig Plot gut leben, wenn dafür die Charaktere sehr liebevoll entworfen sind, aber leider war das hier nicht der Fall und konnte daher den Plotmangel nicht wirklich kompensieren. Scout war ein stereotypisches Tomboy-Mädchen, Atticus war einfach zu gut, um realistisch zu sein. Nur Jem mit seinen Ecken und Kanten hat mir gefallen. Insgesamt fand ich alles ein bisschen stereotyp und idealistisch.

Ich wundere mich gerade selber, dass ich so viel negatives finden konnte und will daher noch einmal betonen: insgesamt war es eine sehr unterhaltsame Lektüre und ich bereue definitiv nicht es gelesen zu haben. Im Grunde ist dieser Fall genau das Gegenteil zu meiner Sturmhöhe-Leseerfahrung: dort fand ich die Lektüre anstrengend, konnte jedoch viel literarisches Genie erkennen. Hier war die Lektüre sehr unterhaltsam und kurzweilig, jedoch eher unspektakulär in literarischer Hinsicht.

Habt ihr das Buch gelesen? Wie hat es euch gefallen?


Wer die Nachtigall stört… | Harper Lee | Rowohlt | 448 Seiten
ISBN: 3499217546 | 9,99€


3 comments / Add your comment below

  1. Ui, eine sehr differenzierte Sichtweise. Ja, das stimmt, dass Schwarze nur als Nebenpersonen darin vorkommen. Ich mochte das Buch trotzdem sehr. Irgendwie hatte es anfangs so eine tolle Atmosphäre, eben dieses Unbeschwerte. Im zweiten Teil wurde es dann ernst. Ich mochte beide Teile auf ihre Weise. Ich finde auch den Film mit Gregory Peck ganz toll gespielt (schwarz-weiß-Film). Vielleicht liegt dir Onkel Toms Hütte ja eher, das ist ja eigentlich auch ein Klassiker, und dieser beschreibt wirklich die Sichtweisen der Schwarzen. Vom zweiten Buch von Harper Lee weißt du? “Geh hin, stelle einen Wächter” (naja, eigentlich wurde es vor “Wer die Nachtigall stört” geschrieben, aber erst später veröffentlicht. Und da ist Scout schon erwachsen…:)

    1. Hey! Danke für den Tipp mit Toms Hütte, werde ich mal in Betracht ziehen! Ja von dem zweiten habe ich gehört, aber ich habe ehrlich gesagt keine große Lust es zu lesen, es soll ja nicht so gut gewesen sein.

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